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Manfred J.

Bild von DENTA_Frankfurt_Manfred J._by Rita S_EN_final, Seite 1

by Rita S.

 


Manfred ist im Jahr 1948 in einer mittelgroßen Stadt in Deutschland geboren. Zur Zeit des Interviews ist er 72 Jahre alt. Er lebt mit seiner Frau in einem eigenen Haus in einem kleinen Dorf in Rheinlandpfalz/Deutschland.
Er hat drei erwachsene Kinder aus seinen ersten beiden Beziehungen. Seine jetzige Frau hat einen erwachsenen Sohn aus der ersten Ehe und zwei Enkelkinder.


Kindheit und Jugendalter
Manfreds Eltern haben sich während des Zweiten Weltkriegs in Berlin kennen gelernt. Im Krieg ist im Juni 1944 sein vier Jahre älterer Bruder geboren. Der Vater kam noch in Kriegsgefangenschaft, nach dem Ende des Krieges haben sich die Eltern in der Stadt Wiesbaden niedergelassen, in der Manfred geboren wurde.


Die ersten sechs Jahre hat die Familie in einem sogenannten „sozialen Brennpunkt-Viertel“ gelebt. Manfred hat sich dort wohl gefühlt, es gab im Quartier viele Kinder zum gemeinsamen Spielen, er bezeichnet es als eine wunderbare Zeit. Sein Vater ist in dieser Zeit beruflich in der Stadtverwaltung aufgestiegen, was ein Grund für den Wegzug in einen anderen Stadtteil war. „Für meinen Vater war es nicht mehr das richtige zu Hause, er wollte dort weg. Für mich war der Wegzug ein Verlust“.


Zu seiner Kindheit sagt Manfred: „Meine Kindheit war bis zum 12. Lebensjahr eine – glaube ich – glückliche gewesen. Ich denke, dass ich von meinen Eltern geliebt wurde, das bin ich erst heute in der Lage zu sagen, das habe ich lange Zeit gar nicht so wahrgenommen“.


Sein älterer Bruder hat durch den Beginn der Frankfurter Auschwitz Prozesse eine Politisierung erlebt. „Durch diese Prozesse kam endlich nach langen Jahren das Thema Holocaust in der deutschen Gesellschaft an“. Sein Bruder und er haben darüber mit den Eltern heftig diskutiert, „es gab schlimme Auseinandersetzungen“. Immer wieder haben sie den Eltern Fragen gestellt wie: „Warum habt ihr nicht gegen das Regime gekämpft? In welcher Art und Weise habt ihr euch schuldig gemacht?“
Den Söhnen gegenüber haben die Eltern in diesen Diskussionen nur Abwehr gezeigt, die in dieser Zeit typischen Erklärungen: „wir waren auch Opfer, ihr habt ja keine Ahnung, es war unmöglich Widerstand zu leisten“. Manfred hat bei den Eltern einen latenten Antisemitismus wahrgenommen.
„Was mich bei diesen Auseinandersetzungen damals am meisten beschäftigt hat, dass von den Eltern nicht ein Satz, nicht ein Gefühl oder eine Empfindung über die Morde an sechs Millionen Juden über ihre Lippen kam“.
Kurz vor dem Tod des Vaters, als Manfred am Bett des Vaters im Krankenhaus saß, hat dieser plötzlich gesagt, wie sehr es ihn im Krieg belastet habe, im Flugzeug zu sitzen und auf unschuldige Frauen, Kinder und Männer Bomben abzuwerfen.
„Es hat mich sehr gefreut, dass er das nochmal erzählen konnte“.


Erwachsenen – Zeit
Die politische Haltung seines Bruders und die Reaktionen seiner Eltern führten zu einer Entfremdung in der Familie. Sein Bruder ist schon mit 18 oder 19 Jahren aus dem Elternhaus ausgezogen und hat früh geheiratet.
Nach dem Auszug des Bruders fing für Manfred eine schwierige Zeit an.
„Der Auszug meines Bruders war ein großer Verlust für mich. Ich habe schon geahnt, was auf mich zukommt, dass ich raus muss aus der Familie“.


Ungefähr drei bis vier Jahre hat er überhaupt nicht gewusst, wo es für ihn langgeht. Er hat eine Lehre als Speditionskaufmann begonnen, nach Abschluss der Lehre jedoch den starken Impuls „nur raus aus der Familie“ realisiert. Er hatte Fernweh und ist zunächst fast ein Jahr lang zur See gefahren, danach hat er noch einige Jobs im Bereich seiner

Ausbildung angenommen, wobei ihm immer klarer wurde, dass er für diesen Beruf nicht brennt.


Manfreds Politisierung fing nach dem „Prager Frühling“ und nach dem Mai 68 in Paris (Beginn der Studentenbewegung) richtig an. Er hat sich mit seinem Bruder sehr viel über Politik verständigt. „Wir haben uns sehr lange Briefe geschrieben und uns über Politik ausgetauscht“. Sein Bruder war eine wichtige Bezugsperson für ihn, tragischerweise ist er im Alter von 28 Jahren gestorben. „Ich habe meinen Bruder sehr geliebt“.


Manfred hat sich immer mehr von den Eltern entfernt, diese konnten mit seinen Sympathien für die „linke Bewegung“ nichts anfangen. Für die Eltern waren „arbeiten gehen, Karriere machen, sich ordentlich anziehen und korrekt die Haare schneiden lassen“ wichtige Themen. Der Vater hat ihn im Laufe der Jahre zweimal aus der elterlichen Wohnung verwiesen. Es gab einmal sechs Jahre und einmal eineinhalb Jahre, in denen sie gar keinen Kontakt hatten.
„Die Eltern kamen mir abhanden, für mich gab es nun das Thema „allein sein“, vielleicht begann langsam eine Depression. Ich sah so ins Dunkle rein und wusste nicht wohin mit mir. Es kam die Angst vor dem schwarzen Loch, das mich verschlingen könnte“.


In Manfred entstand die Idee, mit einem Beruf im sozialen Bereich die Themen Arbeit, Politik und Geldverdienen miteinander verbinden zu können. Die Aufnahme des Studiums der Sozialarbeit an der Fachhochschule war für ihn der Beginn eines schönen und spannenden Lebens. „Ich war wie in einer neuen Welt, es war für mich ein menschliches Paradies. Wir hatten viele Freiräume im Studium, ich bin in der Zeit in meine erste Wohngemeinschaft gezogen, wir wollten die Welt verändern“. In dieser Zeit hat Manfred gelernt Ideen zu entwickeln, Dinge anzupacken, etwas umzusetzen und ein Projekt zu Ende zu führen. Nach dem Ende der Ausbildung hat er sein Anerkennungspraktikum als Sozialarbeiter absolviert. Mit seiner ersten intensiven Beziehung hat er ein Kind bekommen, sie haben gemeinsam mit dem Kind in einer neuen Wohngemeinschaft gewohnt. Der Beginn der Beziehung war nicht einfach, was sich nach der Geburt der Tochter positiv verändert hat. „Endlich war ich nach all den schwierigen Jahren in meinem Leben da, wo ich intensive Gefühle zu meiner Partnerin und unserem Kind hatte. Meine Tochter war für mich ein großer Lebensanker“.
Das Leben in der Familie war so aufgeteilt, dass Manfred überwiegend der „Hausmann“ war, die Partnerin in einer Obdachlosensiedlung als Sozialarbeiterin tätig war.

Manfreds erstes Projekt war die Gründung einer Krabbelgruppe, sein zweites Projekt war die Gründung eines linken Buchladens, den er erfolgreich mit einem Kollektiv betrieben hat. Nach sechs Jahren Beziehung hat ihn seine Partnerin mit einem Liebhaber konfrontiert und der Erwartung an ihn, dies zu tolerieren. „Es war der Zeitgeist unter uns Linken, das zu tolerieren und keinen Stress zu machen. Aber es war der Einstieg ins Ende“.
Nachdem seine Partnerin die Beziehung mit ihm beendet hat, war Manfred sehr verzweifelt. „Zeitweise habe ich mich so gefühlt wie ein Flugzeug auf 10.000 Meter Höhe, bei dem der Sprit ausgeht.“


In dieser Situation hat er versucht sich das Leben zu nehmen, noch im Krankenhaus wurde ihm deutlich, dass dies ein Wendepunkt war, an dem er noch einmal neu starten muss. Er hat sich drei Ziele gesetzt, in seinem Beruf als Sozialarbeiter arbeiten, noch ein Kind bekommen und sich ein Haus bauen. Die klaren Ziele haben ihm geholfen, er hat zunächst das Projekt Lehrwerkstätten für Jugendliche ins Leben gerufen. Diese wurden nach 11 Monaten Planungsphase eröffnet und alle teilnehmenden Jugendlichen haben hier ihre Ausbildung erfolgreich beendet. „Es war eine wunderbare Zeit, wir alle waren sehr stolz.“ Später wurde ihm von einem Verein der Erziehungshilfe die Stelle als Geschäftsführer angeboten. Der Verein war zunächst klein, Manfred hat ihn jedoch im Laufe seiner Tätigkeit durch Erweiterung des Aufgabenspektrums erheblich vergrößert. Er hat den Verein insgesamt 21 Jahre in seiner Rolle als Geschäftsführer erfolgreich bis zum Rentenalter geleitet.


Manfred hat eine neue Partnerin gefunden, die ein kleines Kind in die Ehe mitgebracht hat, nach kurzer Zeit wurde der gemeinsame Sohn geboren. Mit dieser Partnerin hat er auch ein altes Haus gekauft, was sie gemeinsam ausgebaut haben.
Seine drei Ziele hatte er erreicht, jedoch war die Ehe war nicht stabil, nach schwierigen Jahren haben sie sich zur Scheidung entschieden. Nach einiger Zeit des Alleinseins lernte er eine Frau in Berlin kennen, es gab 2 1⁄2 Jahre eine Fernbeziehung mit langen und intensiven Telefonaten und Treffen an den Wochenenden. Nach dem aufkommenden Wunsch, die räumliche Distanz zu beenden, ist seine Partnerin zu ihm in sein Dorf gezogen und sie haben geheiratet. Hier leben sie seit 12 Jahren zusammen, Manfred sagt, „in dieser Beziehung bin ich endlich zu Hause und glücklich“ .

 

Alter
Mit Beginn der Rente hatte Manfred kein Interesse, sich zur Ruhe zu setzen. Er wollte weiter arbeiten und hat junge Menschen, teilweise unbegleitete Flüchtlinge, im Rahmen der Erziehungshilfe betreut. Fünf Jahre hat er im Stundenumfang einer halben Stelle gearbeitet, erst danach die Tätigkeit langsam reduziert. Im Moment betreut er 4 Personen, wobei 2 davon ältere Menschen sind. Weiterhin hat er einige Jahre in einem Kindergarten vorgelesen und in seinem Dorf das Projekt Bürgerbus initiiert. Der Bus fährt inzwischen regelmäßig. „Engagement gehört zu meinem Leben“. Seine Frau möchte nach dem Ende ihrer Berufstätigkeit gerne wieder nach Berlin ziehen, sie planen daher einen Umzug in die Großstadt, wo ein neues Leben beginnen wird. Manfred kann sich jedoch kein „Nichtstun“ vorstellen, es könnte sein, dass er sich dort einen kleineren Betreuungsjob sucht oder sich nach Projekten umschaut, in denen er sich aktiv beteiligen kann. In den letzten Jahren hat er angefangen biografisch zu schreiben, er hat inzwischen über 50 Texte zusammengestellt, die er für seine Kinder drucken lassen möchte. Außerdem hat er sein Interesse an der Bildhauerei wieder aktiviert. Der Prozess, 3 – 4 Monate an der Entwicklung einer Skulptur zu arbeiten, füllt ihn aus und befriedigt ihn sehr.


Für die nächste Phase des Älterwerdens wünscht er sich keine materiellen Dinge, auch an größeren Reisen hat er kein Interesse. Es ist ihm wichtig, dass er aktiv bleiben, in Projekten oder politischen Initiativen mitarbeiten und seine Interessen wie das Schreiben oder die Bildhauerei weiter verfolgen kann.
Sein wichtigster Wunsch ist, dass die guten Beziehungen zu seinen Kindern erhalten bleiben. Für jedes seiner Kinder formuliert er Wünsche: seine erste Tochter ist an Krebs erkrankt, er wünscht sich sehr, dass sie wieder gesund wird. Für seine Adoptivtochter wünscht er sich, dass sie einen guten Einstieg ins Berufsleben findet und ihr Kinderwunsch in Erfüllung geht.
Sein Sohn ist noch auf der Suche und bei Anforderungen schnell überlastet. Für ihn wünscht sich Manfred, dass er stabiler wird und mehr Selbstsicherheit gewinnt.
„Meine Kinder sollen ein zufriedenes Leben führen können“.


Manfred denkt, dass der Umzug nach Berlin große Herausforderungen mit sich bringen wird. Er blickt positiv in die Zukunft: „ich habe den Wunsch relativ alt zu werden, an die 90 Jahre möchte ich gerne kommen“.