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Doris L.

Doris L

von Iris H.

 

 

„Im nicht mehr Möglichen das Mögliche tun“

Wir treffen uns am Faschingsdienstag in ihrer kleinen Wohnung in Söflingen. „Mit Fasching hab‘ ich eh nichts am Hut“, sagt Doris L., die tags darauf, am Aschermittwoch, 82 Jahre alt wird. Die Religionspädagogin will zwischen den Generationen vermitteln. Sie bringt Altenheimbewohner und Kindergartenkinder zusammen.

 

Frau L., wie mobil sind Sie?
Seit zwei Jahren kann ich nicht mehr Rad fahren, so ist mein Radius ziemlich eng. Ich fahre noch kurze Strecken mit dem Auto und versorge mich selbst. Sollte ich das einmal nicht mehr schaffen, hab` ich mir schon ein Seniorenheim ausgesucht.

Gibt es wiederkehrende Termine in Ihrem Alltag?
Ja, einmal in der Woche gehe ich ins evangelische Familienzentrum zu den Kindergartenkindern, um mit ihnen zusammen zu essen. Ich bin dort die Essens-Oma. Ich sitze mit den Kindern am Tisch und sie erzählen oder fragen. Zum Beispiel haben wir ausgerechnet, wie alt wir zusammen sind. Und sind auf glatte 100 Jahre gekommen.

Doris L am Computer

Warum sind sie eine „Essens-Oma“?
Generationsübergreifend zu arbeiten ist mir wichtig. Auch mit Konfirmanden. Die meisten haben ja Großeltern, die noch berufstätig sind. Und wie es zum Beispiel in einem Seniorenheim zugeht, davon haben sie keine Ahnung. Wenn so ein Konfirmand mal einen Rollstuhl um die Ecke schieben muss, staunt er, wie schwer das geht. Ich halte aber auch Gottesdiente im Seniorenheim ab. So habe ich zu allen Generationen Kontakt und lerne von allen. Kürzlich hat zum Beispiel eine 103-Jährige zu mir gesagt: „Wissen Sie, das mit dem Terrorismus und der Gewalt hängt damit zusammen, dass man Türen aufschlägt, statt sie bewusst mit der Klinke aufzumachen.“ Das ist doch ein bemerkenswerter Satz!

 

Was haben Sie von den Kindern gelernt?
Dass sie im Heute leben. Das ist auch für mich wichtig. „Früher war alles besser“ halte ich für einen unangemessenen Satz. Aber natürlich bekomme ich auch mit, was heute schiefläuft. Wenn mir Kinder etwa erzählen, dass sie sich nicht aufs Wochenende freuen, weil dann alle in der Familie wieder nur aufs Smartphone schauen. Auch fällt mir seit zwei Jahren auf, dass die Sprache bei den Kindern zurückgeht. Sie bringen oft keinen vollständigen Satz zustande.

 

Was würden Sie an Jüngere weitergeben?
Medien nicht zu verteufeln, aber den richtigen Umgang mit ihnen zu üben. Wichtig finde ich auch eine gemeinsame Mahlzeit am Tag - ohne Smartphone.

 

Spielt Politik in Ihrem Leben eine Rolle?
Nicht die so genannte große Politik. Da geht es doch immer nur um Macht. Mir ist es wichtig, mich vor meiner eigenen Haustür einzubringen, etwa ehrenamtlich in Seniorenheimen. Klar, zu meiner Zeit hieß es noch “Das Weib schweige in der Gemeinde“, da war es nicht üblich, sich politisch einzubringen als Frau. Ich verstehe mich als Sprachrohr für Ältere. Mit denen man laut reden muss, ohne digitale Medien. Da sie oft schlecht und sehen. Das muss man einfach berücksichtigen.

 

Haben Sie ein Lebensmotto?
Im nicht mehr Möglichen das Mögliche zu tun. Sich nicht hängen zu lassen. Ich gehe zum Beispiel mit Stöcken zur Kanzel und halte mich dann an ihr fest. Während der Predigt spür ich keine Schmerzen.

 

Woher kommen Ihre Schmerzen?
Ich bin mit einem Klumpfuß geboren. Nach den damaligen Kenntnissen hat man ihn mir als Baby umgebogen und eingegipst. Noch während des Krieges wurde mir operativ das Sprunggelenk versteift. Da war ich vier oder fünf Jahre alt. Das Gehen fällt mir bis heute schwer, ich brauche orthopädische Schuhe und seit kurzem einen Rollator.

 

Sie leben alleine?
Ja, ich habe eine Tochter, sie ist Pfarrerin im Schuldienst. Mein Mann hatte Depressionen. Ich wusste das bei unserer Heirat, dachte aber, es wird gut werden. Wir waren zehn Jahre verheiratet, dann hat er in der Rezession seinen Job verloren und sich 1979 vor einen Zug geworfen. Ich musste ihn identifizieren. Das sind Bilder, die vergisst man nie.

 

Inzwischen sind Sie darüber hinweg?
Ja, ich hatte lange Jahre immer wieder bestimmte Träume. In den ersten drei Jahren nach seinem Tod kam er von einem Berg herunter auf mich zu, hat sich die Haare aus dem Gesicht gestrichen und ich habe gesehen, dass seine Wunde verheilt war. In den nächsten zwei, drei Jahren kam er wieder vom Berg und war angezogen wie ein Mönch. Er hatte ein Birkenkreuz geschultert und vor mir abgestellt mit den Worten: „Merk dir das, ohne das geht es nicht.“ Im dritten Traum kam er vom Berg und war schön angezogen, so wie ich es immer mochte, mit Anzug und Krawatte. Er hat gestrahlt und mir gesagt: „Jetzt bin ich da, wo ich hingehöre.“ Das war 13 Jahre nach seinem Tod. Dann haben diese Träume aufgehört. Aber seither ist es mir zur Gewissheit geworden, was mit Auferstehung gemeint ist. Dass wir nach unserem Tod bei Gott ankommen.

 

Sie mussten ihre Tochter allein großziehen?
Ich war alleinerziehend in einer Zeit, in der das nicht üblich war. Meine Tochter war acht Jahre alt, als mein Mann starb. Zum Glück hatte ich noch meine Eltern, bei denen wir mittags essen konnten. Kindergeld gab es damals nicht, und die Kirche hat auch nicht so viel gezahlt wie der Staat. Aber ich bin immer ausgekommen, habe keine Weltreisen gemacht aber war mit meiner Tochter öfter auf Familienfreizeiten.

 

Sie waren beziehungsweise sind Religionspädagogin. Wie kam es dazu?
Ich war auf der Mädchenoberschule und auf der Handelsschule. Durch meinen Fuß war ich oft krank. Meine erste Stelle hatte ich als Sekretärin in einem Kinderheim in Waiblingen, danach habe ich in zwei Ulmer Steuerbüros gearbeitet. Aber ich war todunglücklich mit den Zahlen und der Buchhaltung. Ein Heilpraktiker hat zu meiner Mutter gesagt: „Wenn sie nicht einen anderen Beruf bekommt, wird sie depressiv.“ Durch die Vermittlung unseres Pfarrers habe ich dann das Diakonieseminar in Denkendorf besucht und zusätzlich eine Ausbildung zur Prädikantin gemacht. Mit 26 habe ich meine erste Stelle in Crailsheim als Kathechetin angetreten, heute sagt man Religionspädagogin.

 

Sie haben in mehreren Schulen gearbeitet?
In diversen Schulen in und um Ulm. Vor meinem Ruhestand mit 60 Jahren habe ich 18 Jahre lang an der Waldorfschule unterrichtet. Dort war ich gut angesehen, weil ich mich öffentlich gewehrt habe gegen Aussagen wie „Wer sein Taufgelübde ernst nimmt, schickt sein Kind nicht auf die Walddorfschule.“

 

Haben Sie einen großen Freundeskreis?
Nein, eher viele Bekannte. Meine Tochter hat einen Witwer mit drei Kindern geheiratet, zu ihnen habe ich einen eher losen Kontakt. Mittlerweile besuche ich einen Gesprächskreis zum Thema „Philosophie und Glaube“, wo ich interessante Menschen treffe.

 

Das heißt, sie kümmern sich einmal nicht um andere, sondern tun etwas für sich selbst?
Ja, das stimmt. Daran muss ich mich noch gewöhnen (lacht). Und auch daran, dass ich mir helfen lasse.

 

Wobei zum Beispiel?
Vor drei oder vier Jahren habe ich mir einen Computer gekauft und meine Tochter hat mir geholfen, alles einzurichten. Ich habe gemerkt, ich werde ansonsten abgehängt.  Sogar die Pfarrer wollten mir keine Briefe schreiben, sondern mailen. Das kann ich jetzt. Und es macht mir Spaß.