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Elfriede W.

Elfriede W.

von Christel F.-W.

 

 

Frau W., geb. 1932 in Meißen, ist 87 Jahre alt. Der Vater musste in den Krieg ziehen. Mit der Mutter und dem Bruder lebte sie bis 1947 in Sachsen.

Weil es  nach dem Krieg keine Lebensmittel gab, zog die Familie zu einer Tante nach Württemberg. Der Vater kam nach russischer Gefangenschaft auch zur Familie nach Schwaben.

Frau W. machte auf Drängen des Vaters eine Büroausbildung und arbeitete dann fünf Jahre auf einer Bank. Nach einem sozialen Jahr entschied sie sich, die Ausbildung zur Heimerzieherin und danach zur Heilpädagogin zu machen. Von 1971 bis zu ihrem Ruhestand 1994 arbeitete sie in einem Kinder- und Jugendheim in Ulm.

 

Frau W. empfängt mich in ihrer Wohnung im 8. Stock und bittet mich, mich auf ihren Lieblingsplatz zu setzen. Von dort hat man einen wunderbaren Blick über Ulm,

man kann das Münster, Häuser, Kirchen und Bäume sehen.

 

Wie kannst du deine gegenwärtige Situation beschreiben ?

Es geht mir gut. Ich lebe mit meinen fünf Einschränkungen: Ich sehe sehr schlecht, höre schlecht, habe eine chronische Darmentzündung, nur noch 50% Herzleistung und eine Hirnleistungsschwäche, das heißt ich kann nach einiger Zeit nichts mehr aufnehmen und brauche Ruhe. Die Probleme kamen nach und nach. Mit 80 Jahren musste ich das Auto abgeben. Ich habe mich arrangiert und bin zufrieden.

 

Wie lebst du?

Mein Tag ist strukturiert, ich brauche den Rhythmus.  Eigene Bedürfnisse wie Hygiene und Kochen kann ich ohne fremde Hilfe befriedigen. Jeden Tag kommt eine andere Ansprechpartnerin. Das ist mir sehr wichtig. Ich bekomme von der Stadt Ulm Blindengeld, damit bezahle ich die Dienstleistungen. Dafür bin ich sehr dankbar.

 

Wie sieht deine Woche aus?

Am Montag kommt die Haushalthilfe zum Saubermachen. Am Dienstag sehe ich eine Frau von der Diakonie, sie richtet mir die Tabletten für die Woche. Am Mittwoch ist eine ehemalige Kollegin eingeplant, sie macht die schriftlichen Arbeiten. Ich kann keine Formulare ausfüllen und auch nicht mehr schreiben. Ich sehe das nicht mehr. Am Donnerstag besorgt mir eine Frau den Einkauf und begleitet mich in die Stadt. Freitags habe ich den Mittagstisch mit ehemaligen Kollegen. Früher habe ich gekocht. Jetzt gehen wir essen. So lerne ich fremde Gerichte kennen. Das letzte Mal waren wir beim Inder. Das gefällt mir. Am Samstag bringt die Vorleserin von der Nachbarschaftshilfe Bücher. Seit meinem 9. Lebensjahr war ich eine Leseratte. Die Frau liest mir Biographien aus der Stadtbücherei vor. Das genieße ich sehr und freue mich darauf. Hörbücher bringen mir nichts, das geht zu schnell, das kann ich nicht aufnehmen. Am Sonntag habe ich Besuch von der Nachbarin.

 

Welche Kontakte hast du?

Ich habe einen engen Kontakt zur Familie meines Bruders, weil ich keine eigene Familie habe. Ein Neffe kümmert sich um mich und erledigt meine Angelegenheiten.

Ich habe aus allen Lebensphasen Freundinnen, mit denen  ich telefoniere und mich treffe. Wir haben einen regel-mäßigen Rentnertreff der ehemaligen Arbeitskollegen, der ist für mich ein Highlight.

Ich wohne neben einem großem Seniorenzentrum, da kann ich zu den Ärzten und in das kleine Lädele selbst gehen. Wenn ich nicht kochen will, kann ich dort essen.

 

Was sind deine Hobbys ?

Ich koche gerne. Wenn ich ein neues Rezept in der Zeitung sehe, lasse ich mir die Zutaten bringen und koche das nach. Ich habe ein extra Lesegerät, das ich aber nur kurz benutzen kann, dann tränen die Augen. Ich bin gerne unter Menschen und unterhalte mich gerne. Bei größeren Gesellschaften dröhnt mir der Kopf, das geht nicht mehr. Am Nachmittag brauche ich eine Ruhezeit und abends nach den Nach-richten bin ich im Bett. Früher ging ich viel auf Reisen. Jetzt schaue ich Ländersendungen in Fernsehen an.

 

Wo bist du aufgewachsen ?

Ich bin in einem Dorf bei Dresden aufgewachsen. Meine Mutter hat mich frei erzogen Ich ging zu Kurrendesingen und konnte viel draußen sein..

Bei Kriegsbeginn wurde mein Vater eingezogen, der Abschied war hart. Ich sah ihn in 9 Jahren nur einmal bei der Taufe meines Bruders 1940.

 

Was waren einschneidende Erlebnisse ?

Gegen Ende des Krieges kamen die Bomben, im Keller hatten alle Angst und weinten. Ich war überzeugt, dass ich überlebe. Aber dann kam der Hunger mit den Flüchtlingen aus den Ostgebieten. Es gab nicht genügend zu essen.

Meine Mutter und mein Bruder hatten Hungergelbsucht. Ich schrieb an meine Tante im Schwabenland, ob wir kommen könnten. Mit der Genehmigung des amerikanischen Hochkommissars ins Ulm zogen wir mit wenigen Habseligkeiten nach Schwaben.

 

Wie war es in der neuen Heimat

Ich konnte aufs Gymnasium gehen und wollte Lehrerin werden. Nach 9 Jahren stand plötzlich ein kahlgeschorener, abgemagerter, zerlumpter Mann in der Wohnung. Seit vielen Jahren hatten wir nichts  von ihm gehört.Mein Vater war aus der Gefangenschaft zurück gekommen. Das war 1947.

Er bestimmte, dass ich nach der Mittleren Reife in die Handelsschule musste. Er wollte sich zuerst eine Existenz aufbauen. Ich traute mich nicht, zu widersprechen, obwohl  die Entscheidung für mich sehr hart war.

Ich arbeitete auf der Bank und traf mich mit einem Kollegen zum Mittagessen. Sein Freund sagte mir, er sei katholisch und eine Verbindung sei nicht möglich. Das traf mich sehr.

 

Wie hast du dich dann weiter entschieden?

Ich kündigte, und machte ein diakonisches Jahr. Die Arbeit mit Kindern gefiel mir und ich machte die Ausbildung zur Erzieherin. Inzwischen war ich volljährig und brauchte niemand zu fragen. In einem Heim für schwererziehbare Mädchen nahm ein neuer Heimleiter  mir dann die Erziehungsleitung weg. Das kränkte mich zutieftst. Mein Selbstbewusstsein war erschüttert. Ich kündigte und machte an der Universität in Zürich die Heilpädagogen Ausbildung. Das war eine wunderbare Zeit und mit den Kurskollegen treffe ich mich noch bis heute..

 

Neuer Lebensabschnitt?

Noch in Zürich bewarb ich mich um eine Stelle in einem Kinder- und Jugendheim in Ulm. Dort konnte ich meine pädagogischen Ideen verwirklichen. Ich installierte regelmäßige Gespräche mit den Erziehern über die Kinder. Kinder mit Entwicklungsverzögerungen bekamen von mir Einzelbetreuung. Es gab Gespräche über die Reaktionen der Erzieher, und die Kinder lebten in Familiengruppen. Ich führte Gespräche mit den Eltern und den Sozialarbeitern und verfasste Berichte. Dazu machte ich Fortbildungen und setzte meine ganze Kraft für diese Arbeit ein. Meine Eltern und mein Bruder mit seiner Familie lebten in der Nähe, dort fühlte ich mich geborgen.

Ich arbeitete  in Ulm bis zum Ruhestand und danach war ich 10 Jahre beim Besuchsdienst im Seniorenheim.

 

Was möchtest du an Jüngere weitergeben ?

Hört auf eure innere Stimme. Spürt, was eure Möglichkeiten sind und was euch gut tut. Ich selbst bin ja schon Urgroßtante und schreibe für meine Nichte in Gedichtform mein Leben auf. Gerade schreibe ich ein Gedicht über die Organe, den Herrn Darm und Frau Blase und die anderen Organe, dass sie im Gleichgewicht sein sollen.

 

Wie kommt es, dass du zufrieden bist?

Ich lerne mit meinen Dämonen in Freundschaft zu leben und mit meinen verschiedenen Lebensphasen Frieden zu schließen. Das ist sehr wichtig für mich. Ich glaube, dass Gott mich immer geführt hat. An seinem 70. Geburtstag bat mich mein Vater um Verzeihung. Ich konnte seine Bitte akzeptieren.

 

Wie siehst du deine Endlichkeit ?

Ich denke da an Hermann Hesse, an das Gedicht „Die Stufen“, dass auch, wenn die Sonne untergeht, sie doch woanders weiter scheint, wir auch in der Todesstunde in neue Räume gehen.

 “Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden, wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde“.