Link zur Seite versenden   Druckansicht öffnen
 

Judith S.

by Rita S.

 

 


Judith ist am 23.04.1949 in Sao Paulo/Brasilien geboren. Zur Zeitpunkt des Interviews ist sie 71 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann in der Großstadt Frankfurt in Deutschland. Sie leben in einem Mehrfamilienhaus in einem Stadtteil nahe der Innenstadt. Das Ehepaar hat zwei Töchter und ein Enkelkind. Judith hat die brasilianische und deutsche Staatsangehörigkeit.


Kindheit und Jugend
Ihr Vater und ihre Mutter waren jüdischen Glaubens und haben in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus gelebt. Sie sind beide rechtzeitig aus Deutschland geflohen. Ihre Mutter ist mit den Großeltern 1933 nach Antwerpen, von dort 1935 nach Brasilien emigriert.Ihr Vater ist 1935 nach Brasilien emigriert. Ihre Eltern haben sich in Brasilien kennen gelernt. Die Familienangehörigen des Großvaters sind durch die Nationalsozialisten in Deutschland ermordet worden. Die Angehörigen der Mutter konnten rechtzeitig fliehen.
„Meine Mutter wollte nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden setzen“.


Judith ist in Brasilien geboren, sie hat einen vier Jahre älteren Bruder. Durch den Kontakt zu den Großeltern hatte sie gute verwandtschaftliche Beziehungen in Brasilien. Großvater und Großmutter waren streng religiös, dadurch gab es auch intensive Kontakte zur jüdischen Gemeinde in Brasilien.


Die Eltern haben mit Judith portugiesisch gesprochen, miteinander aber deutsch, so dass Judith die deutsche Sprache verstehen und etwas sprechen konnte.
Ihre Mutter sagte :
„In dieses Land will ich nie mehr, aber die Sprache kann nichts dafür“.


Judith erinnert sich an eine schöne Kindheit, der Kontakt zu ihrer Mutter war sehr gut, sie war eine liebe Mutter. Ihr Vater war für sie ein Mentor, der ihr Musik und Kultur nahe gebracht hat. Sie erinnert sich, dass er sie oft samstags mit ins Kino genommen hat, anschließend hat sie mit ihm Würstchen und Kartoffelsalat gegessen.
„Ich war immer eine Leseratte, mein Vater hat mir viele Bücher geschenkt, die mich sehr beeindruckt haben“.


Antisemitismus und Nazideutschland war in ihrer Kindheit kaum ein Thema zu Hause. Die Eltern haben mehr nach vorne geschaut und darauf, was sie sich aufbauen wollten. Sie haben zum Mittelstand gehört und hatten dadurch ein gutes, wirtschaftlich gesichertes Leben.


Erwachsenen-Zeit
Judith ist gerne zur Schule gegangen, da sie schnell und gut gelernt hat, konnte sie eine Klasse überspringen und hat dadurch auch früh ein Studium aufgenommen. Sie hat Bibliothekswesen studiert und danach in unterschiedlichen Arbeitsstellen gearbeitet. Im Rahmen ihrer Tätigkeit in einer wissenschaftlichen Bibliothek konnte sie ein dreimonatiges Praktikum in Frankreich, England und der Schweiz machen.


Nach einigen Jahren Berufstätigkeit, in denen sie viel Geld verdient hat, hat sie sich eine Auszeit genommen und ist fast drei Jahre lang durch unterschiedliche Länder gereist. Sie hat insgesamt ein Jahr in zwei Kibbuze in Israel gelebt und ist in Europa durch England, Frankreich, Italien und Spanien gereist.


„Ich war unbekümmert und hatte keine Angst, habe nur gute Erfahrungen gemacht“.
Nach dem Ende ihrer Reisen ist Judith nach Brasilien zurück gekehrt und hat dort zunächst gearbeitet. Nach einiger Zeit ist sie nach England gezogen, um an der Universität noch ihren Master zu machen. Dort hat sie auch ihren jetzigen Mann kennen gelernt. Nach dem Master Abschluss ist sie in den Nord-Osten Brasiliens und hat als Dozentin an einer Universität gelehrt.


Ihr Mann ist ihr nach Brasilien gefolgt, er wollte jedoch nicht in Brasilien sesshaft werden.
„Er hat gesagt, hier gibt es keine Fleischwurst“ (typische deutsche Wurst).


Er war als Lehrer ausgebildet und hatte in Deutschland bessere Chancen im Beruf. Daher haben sie sich entschlossen, nach Deutschland zu ziehen.
Für ihre Familie, insbesondere für ihre Mutter, war dies ein großes Problem. Zum ersten war ihr Mann kein Jude, zum zweiten ein Deutscher.


Judith kam im Alter von 31 Jahren nach Deutschland und lebt seitdem in Frankfurt. Der Umzug nach Deutschland und die andere Mentalität der Menschen sind ihr anfangs schwer gefallen.

„Die Deutschen denken immer nur an Leistung und an die Rente“.


Sie hatte zunächst ein Promotionsstipendium, ist dann jedoch mit ihrer ersten Tochter schwanger geworden und hat die Promotion aufgegeben.Vier Jahre später ist ihre zweite Tochter geboren. Die Liebe ihrer Mutter war so groß, dass sie nach der Hochzeit von Judith nicht nur ihren Schwiegersohn akzeptiert hat, sondern auch jährlich nach Deutschland geflogen ist, um die Familie und ihre Enkelkinder zu sehen.


Judith hat nach der Geburt der Töchter in Frankfurt gearbeitet, in verschiedenen Bibliotheken und als Lektorin. Sie ist immer gerne arbeiten gegangen, obwohl sie in Deutschland nicht so gute Berufschancen wie in Brasilien hatte.
„In Brasilien hatte ich schon Karriere gemacht“.


Judith hat in Deutschland nie persönlich Antisemitismus erlebt. Sie hat jedoch begonnen, mit ihrer Mutter über deren Erfahrungen in der Vergangenheit während des Lebens in Deutschland zu sprechen. In diesen Gesprächen hat sie viel über die Erlebnisse der Mutter mit Antisemitismus und Diskriminierung in der Kindheit und frühen Jugend erfahren.


Alter
Judith konnte etwas früher mit ihrer Berufstätigkeit aufhören. Der Übergang ist ihr nicht schwergefallen, da sie sich bald ehrenamtlich für die brasilianische Literatur eingesetzt hat. Durch ihre literarischen Kompetenzen und Erfahrungen in der Tätigkeit als Lektorin hat sie brasilianische Autoren zu Lesungen engagiert, nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz und in Österreich.
„Die selbständige Arbeit hat mir viel Spaß gemacht, ich war meine eigene Chefin“.


In den letzten Jahren hat sie sich auch ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit engagiert, Judith betreut einen kurdischen Geflüchteten.
Da es ihr selbst gut geht, hat sie den Anspruch an sich, etwas an Andere zurückzugeben. Daher sind ihr die ehrenamtlichen Aktivitäten wie auch Spenden wichtig.
„Ich fühle mich als privilegierter Mensch, da ich in einem wunderbaren Land geboren wurde, eine wunderbare Familie hatte und nie einen Krieg erlebt habe“.


Im Alter geht es ihr gut, sie und ihr Mann lieben sich nach wie vor und sie sind

wirtschaftlich abgesichert. Sie ist sehr aktiv, neben ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit nimmt sie am kulturellen Leben teil, ist Mitglied in einem Leseclub, geht wandern und treibt Sport. Sie hat gute Freundinnen und Freunde und ein vielfältiges soziales Leben.


Judith ist inzwischen Oma, eine der Töchter hat ein Kind. Beide Töchter leben in einer anderen Stadt, der Kontakt zu den Kindern und dem Enkelkind ist gut, sie sehen sich sehr häufig.
Judith lebt mit ihrem Mann in einer guten Hausgemeinschaft, es gibt lockere Treffen und man hilft sich gegenseitig. Da sie im 4. Stock ohne Aufzug wohnen und sie etwas Arthrose im Knie hat, ziehen sie demnächst in eine andere Wohnung, was ihr wegen der guten Gemeinschaft ihm Haus sehr leid tut.


Ihrer Einschätzung nach hat sich das Bild älterer Menschen sehr gewandelt, da Ältere im Gegensatz zu früher sehr aktiv und unternehmungslustig sind.
Judith hat Zweifel, ob die ältere Generation sinnvolle Erkenntnisse aus ihren Erfahrungen weitergeben kann.
„Fachwissen kann man vermitteln, aber keine Erfahrungen, die muss jeder selbst machen“.
Ein Zitat ihres Opas fällt ihr dazu ein:
„Wer von den Erfahrungen anderer lernt ist ein kluger Mensch“.


Zum Antisemitismus in der Welt befragt betont sie, dass sich viel in der Geschichte wiederholt.
„ich habe daher wenig Hoffnung, dass der Antisemitismus in der Welt verschwinden wird“.
Ihr persönlicher Wunsch für die weitere Zeit im Alter: „in erster Linie wünsche ich mir Gesundheit“!