Erika B.

DENTA Ulm Gitti Duong - Photo Erika B. 1
DENTA Ulm Gitti Duong - Photo Erika B. 2

by Brigitte N.-D.

                                                            

 

Kontaktknüpfen am Tag der Frauen

Erika B. wird 1918 als Tochter einer baltendeutschen Kaufmannsfamilie im russischen Charkow geboren. Ihr Mann stirbt in den 1960er Jahren, die Mutter zweier Kinder muss ihre Familie als Sekretärin durchbringen. Mittlerweile lebt Erika B. in einem Pflegeheim in Memmingen, Bayern. Zeitungen und Bücher liest sie mit Hilfe eines technischen Vergrößerungsapparates, ihr Telefon hat eine hochsensible Hörverstärkung, so dass sie sich intensiv mit ihren Kindern, Freunden und Verwandten in den USA austauschen kann. Ihr großes Glück sei es, sagt die 102-Jährige, immer interessante Menschen kennengelernt zu haben.

 

Frau B., Sie sind 102 Jahre alt und haben lange Jahre in Ulm gearbeitet und gelebt. Warum wohnen Sie jetzt in einem Pflegeheim in Memmingen?
Ich habe bis zum 80. Lebensjahr in Ulm gelebt, in einer Innenstadtwohnung im dritten Stock ohne Aufzug. Doch das Treppensteigen wurde für mich immer beschwerlicher, und ich sah mich bald nach einer Wohnung im Betreuten Wohnen um. Alle Angebote in Ulm waren aber zu teuer, deshalb habe ich im weiteren Umkreis gesucht. Aus Memmingen bekam ich ein Angebot, das für mich mit meiner Rente erschwinglich war. Ich konnte sogar mein Klavier in die hübsche Zweizimmerwohnung mitnehmen.

 

Wie gelang Ihnen das Einleben in Memmingen?

Mit  einigen Mitbewohnern im Haus habe ich mich bald angefreundet, denn ich war schon immer  kontaktfreudig. Ich suchte aber auch nach neuen Bekanntschaften in der Stadt Memmingen. So las ich in der Zeitung von einer Veranstaltung  zum „Tag der Frauen“, die ich voller Neugier besuchen ging. Dort lernte ich eine Frauengruppe kennen, mit der ich mich dann regelmäßig traf. Dabei befreundete ich mich mit einigen Damen, zu denen ich heute noch Kontakt habe. Die Gruppe bildete auch eine Frauengeschichtswerkstatt, die gerade ein Buch über “Memminger Frauen“ vorbereitete. Auch meine Biografie wurde in diese Dokumention aufgenommen wurde.

Doch mittlerweile leben Sie im Pflegebereich?
Nach einer Hüftoperation in Memmingen, mit 85 Jahren, konnte ich kaum mehr gehen. Meine Sehkraft wurde sehr schlecht, das Gehör ließ immer mehr nach, so dass ich jetzt nur noch mit technischen Hilfen leben kann. Zunächst bewegte ich mich mit Unterstützung eines Rollators fort oder in einem Elektromobil, das in der Tiefgarage geparkt war. Damit konnte ich noch etwa fünf Jahre außerhalb des Hauses Besorgungen allein erledigen. Heute sitze ich im Rollstuhl und bin auf Betreuung angewiesen. Vor zehn Jahren musste ich in die Pflegeabteilung umziehen. Jetzt habe ich nur noch ein Zimmer. Mein Klavier musste ich verkaufen.

 

Das war sicher hart für Sie. Zu wem haben Sie denn nun Kontakt?
Die Schwestern sind ganz reizend. Sie kommen aus vielen verschiedenen Ländern, und ich erfahre in interessanten Gesprächen mit ihnen, wie die Menschen in ihrer Heimat leben. Eine Polin erzählt mir immer Geschichten von ihrer Familie, wenn sie aus dem Urlaub zurückkehrt. Mit einem jungen deutsch-russischen Pfleger aus St. Petersburg unterhalte ich mich gerne auf Russisch. Inzwischen habe ich auch weitere nette Leute aus Memmingen kennengelernt. Eine liebe Dame, die mich jetzt regelmäßig spazieren fährt, lernte ich über das evangelische Gemeindeblatt kennen, wo sie Besuchsdienst im Altersheim anbot. Auch ein sehr gebildeter Herr erfreut mich mit seinen Besuchen durch diese Vermittlung.   Eine andere großartige Bekanntschaft machte ich im Wartezimmer meines Orthopäden. Eine junge Frau aus Norddeutschland half mir mein runtergefallenes Hörgerät zu suchen. Dabei kamen wir ins Gespräch. Seitdem besucht sie mich alle zwei Wochen und wir unterhalten wir uns über Gott und die Welt. Manchmal führt sich mich auch im Rollstuhl  in ein Restaurant zum Essen aus.

 

Und wenn Sie alleine in Ihrem Zimmer sind?
Ich lese sehr gerne, bin aber fast blind. Von der Krankenkasse habe ich einen hochtechnischen Vergrößerungsapparat bekommen. Am liebsten lese ich alte Romane aus Russland, von wo meine Mutter stammte und wo ich geboren wurde, auch gerne die großartigen Werke von Wilhelm und Alexander von Humboldt oder von Albert Schweizer. Hörbücher mag ich nicht so gerne, denn meine Hörgeräte sind dafür noch nicht genügend angepasst. Im Fernsehen schaue ich mir neben den Nachrichten gerne Tierfilme an. Die Landschaften und die Tiere kann ich aber nur verschwommen sehen. Bis vor kurzem hörte ich mir auch die Vorträge im Haus an. Das geht aber wegen meiner Hörschwäche leider nicht mehr. Ich würde mir deshalb die Entwicklung neuer Techniken wünschen, die für fast Blinde eine handliche Bedienung von Hör- und Sehhilfen ermöglichen.

 

Haben Sie denn auch Kontakt zu Ihrer Familie?

Mein Sohn aus Ulm und meine Tochter aus der Nähe von Augsburg kümmern sich rührend um mich und besuchen mich so oft es geht. Auch deren Kinder, meine vier Enkelkinder und wiederum deren Kinder, also meine Urenkel, kommen mich manchmal besuchen, sobald ihre Arbeit es erlaubt.

 

Zwei Mal in der Woche telefoniere ich mit Familienangehörigen in USA und in Kanada, wohin meine beiden Schwestern nach dem Krieg ausgewandert sind, und wo sich inzwischen jeweils eine große Familie gebildet hat. Meine Schwestern sind leider verstorben, aber mit meinen Nichten und Neffen und deren Kinder bin ich noch in engem Kontakt. Letztes Jahr haben mich alle die Verwandten aus Amerika der Reihe nach besucht. Das war ein großartiges Erlebnis für mich.


Wie ist Ihr früheres Leben verlaufen?
Meine Kindheit und Jugend verbrachte ich bis zum Ausbruch des zweiten Weltkriegs in Lettland. Mein Vater, ein Deutscher, arbeitete in leitender Tätigkeit als Stahlhändler im russischen Charkow. Er emigrierte mit meiner Mutter und mir als Baby nach dem ersten Weltkrieg und nach den Wirren der russischen Revolution nach England, dann nach Finnland und schließlich 1923 nach Lettland. Dort  fand er  in der Textilindustrie eine gute Anstellung. Er kaufte für unsere Familie in Riga ein Haus in einem Wald nahe der Ostseeküste. Mit meinen beiden jüngeren Schwestern erlebte ich dort eine paradiesische Zeit.

 

Wann fand diese paradiesische Zeit ein Ende?
1939 wurden wir nach dem Deutsch-sowjetischen-Nichtangriffspakt plötzlich mit 70 000 Baltendeutschen nach Polen umgesiedelt. Für uns war die Zeit in Posen, unserem neuen Wohnsitz, jedoch einigermaßen friedlich. Im dortigen Konservatorium machte ich eine Ausbildung als Pianistin. Ich lernte in unserem Haus einen jungen deutschen Arzt aus Lettland kennen, den ich schon kurz darauf heiratete und bald zwei Kinder mit ihm hatte.

 

Und nach Kriegsende?
Als die russische Armee in Polen einmarschierte, hieß es: nichts wie weg nach Westen. Ich erreichte mit meinen beiden Babies, meinen Schwestern und meiner Mutter einen der letzten Züge. Wir landeten in einem Flüchtlingslager im zunächst amerikanisch besetzten Weimar. Als auch hier die russische Besatzung und eine Verschleppung nach Sibirien drohte, flüchteten wir weiter nach Westen. Auf einem Pferdewagen brachte uns ein Bauer durch den Thüringer Wald über die Grenze nach Bayern. Zu Fuß und mittels gelegentlichen Mitfahrgelegenheiten bei örtlichen Bauern,  fast am Verhungern, schlugen wir uns weiter durch bis nach Heidenheim, wo wir über eine gemeinsam bekannte Adresse schließlich meinen Mann wieder trafen, der nach seiner Flucht aus Posen in englische Gefangenschaft geraten war und 1946 entlassen wurde. Wir lebten dort einige Jahre in provisorischen Flüchtlingsunterkünften unter den bitteren Umständen der Nachkriegszeit.

 

Wann ging es dann wieder aufwärts?
1948 erhielt mein Mann die Genehmigung der Ärztekammer in Langerringen bei Schwabmünchen, die Praxis eines pensionierten Landarztes zu übernehmen. Alles war dort aber sehr primitiv, und die nächste Stadt Augsburg ohne Auto weit entfernt.  Nach beschwerlichen acht Jahren konnten wir schließlich 1956 in Senden eine moderne Arztpraxis eröffnen, wo ich als seine Sekretärin und Helferin mitarbeitete. Leider erlitt mein Mann nach einem halben Jahr eine Hirnblutung. Er lebte bis zu seinem Tod 1965 als Pflegefall in unserer Familie.

 

Das heißt, Sie mussten damals das Geld verdienen?
Ja, ich musste meine Kinder alleine ernähren. Ich habe mich auf meine Ausbildung nach dem Abitur auf einer Dolmetscherschule in Leipzig besonnen, und konnte dann bis zu meiner Pensionierung als Sekretärin in verschiedenen staatlichen Stellen in Ulm arbeiten, etwa an der Hochschule für Gestaltung (hfg), dem Oberschulamt, an der Universität und schließlich im Dekanatsamt.

 

Was haben Sie nach Ihrer Pensionierung gemacht?.

Meine ersten 15 Jahre im Ruhestand genoss ich mit Reisen nach Österreich, Italien., Frankreich und England, oder ich flog zu meinen Verwandten nach Kanada und USA. Mein Klavier nutzte ich in ehrenamtlicher Unterstützung von Sing- und Musikgruppen. Zu einigen Teilnehmerinnen habe ich heute noch gute Kontakte.

 

Fällt es Ihnen leicht, Kontakte zu knüpfen?
Ja, ich denke schon. Da fällt mir auch ein Beispiel ein: Eine Freundschaft entstand, als ich auf dem Weg zum Seniorenturnen am Ulmer Museum vorbeikam, und dort ein ziemlich verzweifeltes englisch sprechendes Ehepaar stehen sah. Ich fragte sie „can I help you?“ Dabei erfuhr ich, dass sie aus London waren, und ihre Reisegruppe verloren hatten. Der Bus sollte aber eine Stunde später weiter nach Wien abfahren. Ich war sofort bereit, ihnen ein wenig von der Ulmer Altstadt zu zeigen und sie dann zu ihrem Busplatz zu führen. Diese Bekanntschaft führte zu einer langen Freundschaft. Ich flog  mehrmals nach London zu Besuch und ebenso empfing ich diese lieben Freunde später bei  mir zuhause in Ulm.

 

Wie würden Sie Ihr Lebensmotto beschreiben?
In meinem Leben hatte ich immer das große Glück, interessante Menschen kennen zu lernen. In meinem Beruf oder auf  Reisen, auch heute im Pflegeheim komme ich mit Leuten immer in ein tieferes Gespräch. Ich versuche, auch im Alter neugierig und offen zu bleiben. So erfahre ich interessante und spannende Lebensgeschichten.