Rose von S.

von Ildiko D.

 

 

Frau Rose von S., 76 J wohnt in Ulm – Wiblingen

 

Frau S. ich kenne Sie seit einigen Jahren als eine sehr aktive Frau. Wie gestalten Sie Ihren Alltag?

Ich lese zuerst die Zeitung, das ist für mich sehr wichtig. In meinem Elternhaus ist sehr viel über Politik geredet worden. Meine Eltern waren nicht Partei Mitglieder, aber sie haben unterschiedlich gewählt. Es wurde jeden Tag über Politik geredet, aber immer mit Akzeptanz und Toleranz über den anderen.

Ich habe als Krankenschwester, aus Liebe zu meinem Beruf, im Rentenalter noch Nachtdienste im Pflegeheim gemacht. Meinen letzten Dienst habe ich an Silvester verschenkt. Ich weiß, dass die jungen Schwestern gern feiern möchten. Außerdem habe ich Fortbildungen für die Mitarbeiter des Heimes gegeben.

Zurzeit bin ich nur Mentorin für die Auszubildenden und betreue noch einen minderjährigen Flüchtling.

Ich schaue viel fern, höre immer die Nachrichten, meistens „Phönix“, weil es dort die große Diskussion gibt und ich mich für Politik interessiere.

 

Wo wohnen Sie?

Ich wohne seit einigen Jahren in Ulm- Wiblingen, in einer schönen Eigentumswohnung mit 100m ² Dachterrasse. Diese große Terrasse mit den vielen Blumen sorgt für mehr Arbeit als ein Garten. Ich bin schon Stammkunde bei Hornbach!

Früher haben wir auf dem Dorf in einem Bauernhaus bei Ehingen gewohnt, das war genau das Richtige. Die Kinder sind auf dem Land aufgewachsen, sie haben Respekt vor der Arbeit der Bauern, sie haben zu den Nahrungsmitteln eine ganz andere Einstellung. Dann haben wir ein eigenes Haus gehabt, aber ein Haus benötigt Renovierungen und desto älter man wird, desto schwieriger wird es. Deswegen haben wir entschieden, eine Wohnung zu kaufen, die groß genug ist für unsere Enkelkinder, wenn sie auf Besuch kommen.

 

Haben Sie Hobbys?

Hobbys mit vier Kinder, berufstätig und ein Pflegekind?

Heute höre ich sehr gerne Musik, nicht nur CDs, sondern auch viel YouTube, ich mag gleich auch die Instrumente sehen, auf welchen gespielt wird.

 

Wie gehen Sie mit den neuen Medien um?

Ich habe ein Smartphone, aber nur zum Telefonieren, lese täglich meine E-Mails und auch mal die Nachrichten online. Ich will aber kein WhatsApp.

 

Wo sind Sie geboren?

In Potsdam.

 

Und wie sind Sie nach Ulm gekommen?

Mein Vater war im Konzentrationslager. Er wurde 1933 verhaftet und kam Ende 1934 raus. Er war Richter, blieb aber bis 1945 unter dem NS-Regime arbeitslos. In der DDR haben sie ihn dann als anständigen Demokraten gut gebrauchen können, wo er dann in der Justiz tätig war.

1949 Hat er zu meiner Mutter gesagt: „Die Farbe hat sich geändert, statt braun ist es rot, hier kann ich kein Recht sprechen.“

Die Grenze war noch offen, mein Vater ist in die Bundesrepublik vorgegangen und das darauf folgende Jahr sind wir, meine Mutter und meine Schwester und ich, ihm gefolgt. Zuerst haben wir in Berlin, dann in Münster gewohnt.

 

Wie hat sich das Leben entwickelt?

Mit 18 Jahren bin ich gleich wieder nach Berlin gegangen und habe meine Ausbildung als Krankenschwester gemacht. Nach der Ausbildung dachte ich, dass 3 Jahre Lernen zu wenig sei und wollte weiter machen. Ich habe überlegt, ob ich in der Pflege weiter, oder in der Sozialarbeit weiter mache.

Ich habe dann zwei Jahre bei der Diakonie in einem Mutter- Kind Heim für minderjährige Prostituierte -Mütter als Krankenschwester gearbeitet. Da war wenig Pflegearbeit, es ging mehr um Soziales, nämlich um die Betreuung der Mütter. Das hat mir so einen Spaß gemacht, ich hatte so einen Respekt vor diesen Prostituierten, wie sie zusammen gehalten haben, diese Biographien, was für einen Lebenslauf sie schon hinter sich gehabt hatten. Ich kam aus einem behüteten Elternhaus, ich habe nicht so gewusst was in der Welt los ist.

Nach diesen zwei Jahren, habe ich mich für das Sozialstudium entschieden. Während des Studiums habe ich meinen Mann kennengelernt.

Wir haben in Norddeutschland als Sozialarbeiter gearbeitet und haben beide später die Leitung im Kinderheim übernommen.

1976 hat mein Mann eine Stelle als Mentor und dann als Schulleiter im Behindertenheim Tannenhof bekommen. Einige Zeit habe ich ehrenamtlich als Heilerzieherin gearbeitet.

 Als die Altenpflegeschule in Ehingen aufgemacht hat, wurde mir von der damaligen Schulleiterin anvertraut, die Altenpflegeschule aufzubauen -25 Jahre lang.

 

Was für eine Rolle hat der Beruf in Ihrem Leben gespielt?

Große, ganz, ganz große. Alle freuen sich auf die Rente. Für mich fiel der Abschied von der Schule sehr schwer. Ich habe den Tag überstanden ohne zu weinen, aber noch ein halbes Jahr danach habe ich jeden Morgen auf die Uhr geschaut und geweint.

 

Durch wen wurde Ihr Leben beeinflusst? Konnten Sie Ihr Leben so gestalten wie Sie wollten?

Krankenschwester wollte ich immer werden. Meine Eltern fanden die Sozialarbeit im Heim gut und haben mich während des Studiums unterstützt. Die haben meine Entscheidung, ein uneheliches Kind zu bekommen, ohne Vorwürfe akzeptiert und haben meinen Sohn mit Liebe aufgenommen.

Beeinflusst hat mich die Heimleiterin, sie war eine besondere Frau und mein Vater mit seiner Toleranz.

 

Sind Sie viel gereist?

Meine erste große Reise war nach Amerika, noch als junge Erwachsene. Aber mich hat immer der Osten interessiert. Ich war mindestens 20 Mal in Polen in der früheren Zeit, als es noch ganz viele Vorurteile gegenüber Deutschen gab. Ich habe den deutsch-polnischen Jugendaustausch aufgebaut. Ich bin mit Schülern nach Polen gefahren, habe Seminare mit polnischen Schülern-  aus dem sozialen Bereich - organisiert sowie Studienfahrten.

In Danzig habe ich einen jungen Studenten kennengelernt, den wir aufgenommen haben, um in Deutschland zu studieren – wir haben immer ausländische Gäste gehabt.

In Vietnam war ich auch, weil meine Mutter im Vietnamkrieg die Friedensdörfer unterstützt hat. Ihr Bruder ist dort verschollen. Ich habe Geld geerbt, womit ich nicht gerechnet habe. Mit dem Geld haben ich und mein Mann eine Schule in Vietnam gebaut. Zur Einweihung sind wir mit unserem Sohn hingefahren. Von hier haben wir wieder einen jungen Mann zu uns nach Deutschland zum Studieren geholt.

Mit meinen 7 Enkelkindern fahre ich jedes Jahr nach Bulgarien, an die Schwarzmeerküste, und ich reise viel in Europa.

 

Gibt es einen Wendepunkt in Ihrem Leben?

Ja, als ich mich ganz bewusst entschieden habe, nicht meine große Liebe zu heiraten und mit ihm nach Griechenland ins diplomatische Leben zu ziehen. Obwohl ich ganz vergnügt war, ich habe ein Kind von ihm gehabt.

 

Sie sind politisch interessiert. Gibt es ein politisches Ereignis, das Sie beeindruckt hat?

Der Bau der Mauer, als Berlinerin. Ich habe meine Freundin dort gehabt, sie konnte mich nicht mehr besuchen. Ich konnte zu ihr in die DDR reisen, oder haben wir uns in der Tschechei getroffen -und der 9. November, der Fall der Mauer. Den Tag danach bin ich total verheult mit geschwollenen Augen in die Schule gekommen. Die Schulleiterin kam mir im Flur entgegen und hat gesagt: „Eine Berlinerin ist an diesem Tag nicht in der Schule. Gehen Sie nach Hause, ich mache für Sie heute Unterricht.“ Das sind Sternstunden.

Ich war auch in Israel. Mein Vater hat gesagt „Du gehst zuerst nach Auschwitz und dann, wenn du dort warst, gehst du nach Israel.“ Ich war zwei Mal dort, habe in einer Familie gewohnt und habe unendlich Bewegendes erlebt. Ich bin jetzt ganz arg enttäuscht über Israel, wenn ich heute eine Reise nach Israel geschenkt bekommen würde, würde ich dies ablehnen.

Ich war in Auschwitz mit alle meinen Kindern, immer mit einem, damit man Zeit für das Kind hat. Ich möchte mit meinem jüngsten Enkelkind (11J) hingehen. Bei der Überlegung, ob er nicht zu jung dafür ist, fielen mir die Worte meines Vaters ein. Ich war 8 Jahre alt, als er mir über Auschwitz erzählt hat. Meine Mutter war entsetzt und mein Vater hat weinend gesagt. “Das haben Kinder erleben müssen, das kann meine Tochter wissen“.

Als politische Persönlichkeiten haben mich Helmut Schmidt und seine Frau „Loki“ beeindruckt sowie Albert Schweitzer, den ich einmal getroffen habe.

 

Wie erleben Sie die Gesellschaft heute?

Traurig, weil ich denke, wir versündigen uns an der Jugend. Wenn ich zurück denke, wie unbeschwert ich meine Jugend noch erleben durfte. Ich habe Gorbatschow erlebt und alle haben wir gehofft, dass es jetzt besser wird, und jetzt rüstet sich der Osten, der Westen und auch Amerika wieder auf.

 Die Eltern haben keine Zeit für die Kinder, die Lehrer sollen heute Wissen vermitteln und auch erziehen. Alles ist zu hektisch, zu schnell. Das Internet spielt auch eine Rolle, die Jugend sitzt nur im Internet.

 

Was würden Sie an die Jugend weitergeben?

Wie ich meine Kinder erzogen habe: Geh mit offenen Augen, dass sie Völkerverständigung haben, dass sie Europa in den Herzen behalten sollen. Sie sollten nicht vergessen, dass die Demokratie ein Geschenk ist, denn die Menschen, die frei wählen dürfen, sind ein Minderheit auf dieser Erde.

 

Sind Sie eine Europäerin?

Ja, fanatische Europäerin. Ich habe meinem Enkel zum 18. Geburtstag einen Tag im Europaparlament geschenkt. Alle meine Kinder sind Europäer.

 

Gibt es Dinge, die Sie heute anders machen würden?

Nein, ich bedauere keine von meinen Entscheidungen im Leben.

Ich wäre aber meinen Eltern dankbarer.

 

Haben sich Ihre Wünsche erfüllt, haben Sie noch Träume?

Alles. Ich weiß, dass ich bald sterbe, aber wenn ich an mein jüngstes Enkelkind denke, an mein Urenkelkind, dann hätte ich gern noch einige Jahre, dass ich sehen kann, wie sie sich  so entwickeln , dass alles in ihren Leben gut wird, dass sie selbstbewusste Menschen werden.

 

Haben Sie sich Gedanken gemacht wie Sie Ihr Leben in der Zukunft gestalten möchten?

Nein, ich lasse das auf mich zukommen.

 

Haben Sie Angst vor dem Tod?

Nein, überhaupt nicht. Als Krankenschwester hat man das nicht.

 

Haben Sie Ihr Testament verfasst?

Alles geregelt. Anonyme Bestattung, keine Trauerkleidung, dankbare Musik von Bach. Mein Sohn wird die Rede halten. Auch das, dass das Fazit ist, wie unvorstellbar viel Glück ich im Leben hatte und dass nicht alles selbstverständlich ist.

 

In welche Zeit würden Sie zurückkehren?

Ab der Berufsausbildung -die Krankenschwesterschule und das Soziale- denn es war meine Entscheidungen, alles hat mir Spaß gemacht. Und da waren die Noten viel besser, nicht wie in der Schule.

 

Wurden Sie religiös erzogen?

Ja, evangelisch und bin religiös geblieben.

 

Wenn Sie heute Gott treffen würden, was würden Sie ihm sagen?

 Einfach Dankeschön. Dankeschön für ein Leben in Frieden. Dankeschön für ein Leben ohne Hungern. Danke schön für die Kinder, denen ich genug zum Essen geben konnte.

 

Die Frage nach einem Lebensmotto wird oft gestellt. Gibt es den Leitsatz, der das Leben / Ihr Leben prägt?

Die preußische Erziehung: Höflichkeit, Respekt gegenüber dem anderen, Pünktlichkeit und Pflichterfüllung.

Ich heiße „ von“, das ist ein reiner Zufall. Wenn du am Ende deines Lebens stehst und sagst ich habe zig Fehler gemacht, aber manches habe ich auch richtig gemacht und du im Beruf etwas erreichst hast, dann kannst du stolz sein.

 

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Frieden. Frieden für die Menschheit.